Geodaten sind in der Regel harte Fakten, die auf unterschiedlichste Weise dargestellt, miteinander kombiniert und analysiert werden können. An den allermeisten Punkten gibt es da im Hinblick auf die Realität der Welt, wie sie sich im Raum und mit diversen Parametern darstellt, wenig zu rütteln. Interessant ist es aber auch, eine durchaus sehr weiche Seite des Raumbezugs zu betrachten: Die so genannten kognitiven Karten, insbesondere in der Tradition von Kevin Lynch in seinem Klassiker „Das Bild der Stadt“.
Wer eine Stadt gut kennt, bildet sie in irgendeiner Form mental ab, um sich dann ohne Papier- und elektronische Hilfsmittel auf den bekannten (oder aus bekannten Eckpunkten herleitbaren) Routen zielgerichtet fortbewegen zu können. Diese kognitiven bzw. mentalen Karten sind sicher nicht immer Pläne in der Draufsicht, wie wir sie zum Beispiel als gedruckte Stadtpläne kennen. Sie können, neben weiteren denkbaren Varianten, auch als System von aufeinanderfolgenden Orientierungspunkten abgespeichert werden.
Ich erinnere mit an einen Versuch in unserem Stadtplanungsstudium in einer der ersten Stadtsoziologie-Vorlesungen 2001/2002. Zwei weibliche und zwei männliche Studierende sollten eine bestimmte Route durch die Hamburger Innenstadt, wie sie sie im Kopf abgespeichert hatten, aufzeichnen. Die weiblichen Studierenden zeichneten den Weg ohne die originalgetreuen Biegungen, aber mit sehr vielen Hinweisen zu Orientierungspunkten (zum Beispiel bestimmten Geschäften) auf, quasi als Band aus diversen für sie relevanten „Landmarks“. Die männlichen Studierenden zeichneten den Hamburger Wallring und innerhalb dessen die wichtigsten Straßen auf, markierten danach dann die betreffende Route auf ihrem Plan. Es wäre vielleicht übertrieben zu sagen, dass der eine Weg typisch weiblich und der andere typisch männlich ist. Sagen wir einfach: Es gibt mehrere gute und zielführende Lösungen.
Was mich aber gerade bei der „männlichen“ Karten-Darstellung immer frage ist: Kann man das nur, weil man sich den tatsächlichen Stadtplan schon genau angeschaut hat? Wie sehr wird die kognitive Karte davon beeinflusst, wie lange und wie ausgiebig wir nicht nur bestimmte Routen ablaufen, sondern auch die Pläne betrachten, die das Gebiet der Route umfassen? Da lohnt an anderer Stelle vielleicht ein vertiefender Blick.
Diesmal möchte ich aber einen anderen Aspekt hervorheben: Fehler in der kognitiven Karte, die sich zum Beispiel durch bestimmte und in Teilen irreführende oder schlichtweg fehlerbehaftete Generalisierungsschritte auf dem Weg von der realen Umwelt zu diesem Abbild im Kopf ergeben. Dazu ein paar persönliche Beispiele.
Der Englische Garten liegt am Westufer der Isar
Bevor ihr jetzt gleich auf die Karte schaut, überlegt doch mal, wie ihr den Englischen Karten im Kopf positioniert und welche Form er hat, wenn ihr München grob oder sogar detailliert kennt. Mich hat diese vereinfachende Positionsbeschreibung schon mehrmals in die Irre geführt, zuletzt Ende Februar 2022. Ich war mit dem Fahrrad vom Hauptbahnhof aus unterwegs und hatte es nicht eilig. Aber ich halte ungern an, um auf die Karte zu schauen. Ich habe ja eine vermeintlich richtige innere Wegbeschreibung: „Fahre vom Hauptbahnhof möglichst geradeaus in Ostrichtung bis zur Isar und dann am linken Ufer der Isar nach Norden.“ Aber auch bei einem Spaziergang zu Fuß ist mir das schon passiert. Ich weiß gerade nicht, warum ich aus diesem Fehler noch nicht gelernt habe. Für das nächste Mal München habe ich es mir auf jeden Fall fest vorgenommen. Denn ein Blick auf die Karte von München zeigt vor dem Hintergrund meiner vereinfachten kognitiven Positionsbeschreibung des Englischen Gartens, warum ich an dessen südlichen Teil dann vorbeigefahren oder vorbeigelaufen und nur mit großem Umweg beim Chinesischen Turm und beim berühmten Teil des Eisbachs gelandet bin.
Die Themse fließt in West-Ost-Richtung durch London
Grob gesagt stimmt das natürlich, aber es ist ja gerade eines der schönen und auffälligen Elemente auf Plänen von London, dass die Themse – nicht nur, aber auch – im Gebiet von Greater London in einen sehr kurvenreichen Verlauf hat. Gleichzeitig überspannen viele Brücken den Fluss, manche sogar in ziemlich genauer Ost-West-Richtung dort, wo die Themse aufgrund der zahlreichen Bögen gerade einen Süd-Nord- oder Nord-Süd-Verlauf hat. Hier bin ich mit meinem eigentlich guten Orientierungssinn irgendwann im Jahr 2011 mal einfach losgelaufen, von der Westminster Abbey die Victoria Street entlang bis zur Victoria Station. An meinem Ziel bin ich angekommen, denn dass die Straße mit diesem Namen auf den entsprechenden Kopfbahnhof zuläuft, hatte ich richtig geschlussfolgert. Nur: Ich dachte, ich sei nach Norden gelaufen vor dem Hintergrund, dass die Westminster Bridge in meiner mentalen Karte damals noch die Themse in Nord-Süd-Richtung überquerte. Folglich musste ich irgendwann dann doch auf die Karte schauen, um mich für den Weg zu einem der umliegenden Stadtteile zu orientieren, denn ich befand mich ja in meiner groben und fehlerbehafteten mentalen Karte von London ganz und gar nicht an meinem tatsächlichen Standpunkt entsprechenden Koordinaten. Ausgehend von der Regel, dass große europäische Kirchen immer mit dem Chor nach Osten ausgerichtet sind, hätte ich anhand der Ausrichtung von Westminster Abbey im Verhältnis zur Achse von der Westminster Bridge zur Victoria Station meine falsche kognitive Karte gleich korrigieren oder zumindest hinterfragen können. Natürlich hätte ich auch auf einen Stadtplan schauen können und das hatte ich sicher vorher auch schon mal getan, nur manchmal werden anscheinend wichtige Sachverhalte im Kopf nicht unbedingt auf Anhieb richtig abgespeichert oder vorherige Annahmen drängeln sich wieder vor. Auch bei einem erneuten Blick auf die Karte von Westminster war ich gerade wieder überrascht, dass die Victoria Street sogar tendenziell nach Südwesten verläuft.
Lass dich überraschen!
Dass man sich in europäischen Altstädten gut ohne Stadtplan orientieren kann ist natürlich im Hinblick auf die so abwechslungsreiche und jeweils sehr individuelle Ausformung der Städte in Abhängigkeit von zum Beispiel Topografie, Gründungsepoche und Region eine viel zu verallgemeinernde Aussage. Ehrlich gesagt trifft sie auch nur auf die vom Aufbau her weniger spannenden Altstädte zu. Zwei Mittelstädte, zu denen ich eine enge Beziehung habe, zeigen sehr gut, wie unterschiedlich das selbst bei Städten ohne bewegte Topografie oder sogar ohne prägenden Fluss sein kann: Celle mit seiner rechtwinkligen und vergleichsweise kleinen Altstadt und Soest, die alte Handelsstadt am Hellweg mit dem beeindruckend großen, organisch gewachsenen Stadtbereich innerhalb der Wälle. In Soest bin ich in der Regel nur in der Freizeit, habe es also meist nicht eilig und lasse mich dort gerne einfach treiben und im wahrsten Sinne von neuen Wegeverbindungen überraschen. Das führt dazu, dass meine kognitive Karte dieser Stadt, die ich seit 2008 kenne und seither unzählige Male besucht habe, noch immer „erfrischend“ ungenau ist.
Und mehr?!
Sicherlich könnte ich hier noch mehr eigene Beispiele erwähnen. Aber ich belasse es erstmal dabei. Vielleicht regen diese Erläuterungen ja den ein oder anderen dazu an, einmal selbst über Unstimmigkeiten in der eigenen kognitiven Karte eines bestimmten Gebiets nachzudenken.